Sehr geehrte Frau Kirsten Boie,
in „Das Lesen und ich“ bringen Sie ihren Wunsch zum Ausdruck, dass Deutschland ein Land der Leser wird. Wie definieren Sie einen Leser?
Kirsten Boie: Da haben Sie mich erwischt! Ich versuche es mal: Ein Leser ist ein Mensch, der nicht nur ab und zu nach einem Buch greift, sondern sich nicht vorstellen kann, einmal ohne zu sein.
Den automatisch ein Glücksgefühl mit Herzklopfen packt, wenn er eine Bücherei oder Buchhandlung betritt oder ein gut gefülltes Bücherregal sieht. Zu dessen Leben Bücher ungefähr so gehören wie gutes Essen und Trinken.
Und der sich, ob er es nun weiß oder nicht, durch jedes gelesene Buchnimmer wieder ein kleines bisschen verändert und entwickelt – in seinem Wissen, seinen Überzeugungen – und das egal, wie alt er ist.
Die Redaktion: Wann ist Ihnen der Missstand den es in der Lese- und Vorlesekultur und dessen Folge das erste Mal wirklich bewusst geworden?
Kirsten Boie: Das sind jetzt zwei verschiedene Dinge. Dass weniger gelesen wird, weiß ich schon seit meiner Zeit als Lehrerin – seitdem hat sich aber die Situation noch einmal massiv zugespitzt. (Die letzte PISA-Studie bestätigt das ja auch offiziell durch ihre Ergebnisse zur geringen Lesefreude bei deutschen Kindern.) – Dass Vorlesen eine Schlüsselrolle spielt nicht nur beim Erwerb der Lesefreude, sondern sogar für den Erwerb der Lesefähigkeit, ist mir erst in den letzten zwanzig Jahren bewusst geworden.
Und auch, dass das Vorlesen, trotz der massiven Werbung, die inzwischen dafür gemacht wird, mit der zunehmenden Verbreitung der digitalen Medien eher zurückgeht (ein Drittel der Eltern liest den Kindern niemals vor). Beobachten Sie einfach mal Familien im ICE, in Cafés, an Orten, an denen die Kinder nicht spielen können:
Wo ihnen früher häufig ein (Bilder-)Buch gegeben oder vorgelesen wurde, wird ihnen jetzt ein Tablet in die Hand gedrückt – häufig, während die Eltern selbst mit dem Handy beschäftigt sind. Die Bedeutung des Vorlesens muss dringend noch stärker ins Bewusstsein vieler Menschen rücken.
Die Redaktion: Warum ist Lesen wichtig? Die drei wichtigsten Argumente fürs Lesen sind…
Kirsten Boie: 1. Es macht Freude, es bietet Trost und Hoffnung, es gibt Anlässe zum Lachen (und Weinen). – 2. Es erlaubt den Ausstieg aus dem Alltag und Distanz dazu – Barack Obama hat immer wieder betont, wie wichtig ihm genau deswegen während seiner Präsidentschaft das Lesen von Literatur gewesen sei. – 3. Es steigert nachweislich die Empathie. – 4. Es zwingt mich immer wieder, mich mit meinen eigenen Überzeugungen auseinanderzusetzen, bisweilen bringt es sie sogar ins Wanken.
Damit ist es wichtig für die Demokratie. (Das war ein Argument zu viel!)
Die Redaktion: Was leistet Literatur, was andere Medien nicht leisten?
Kirsten Boie: Da Literatur mir anders als der Film und andere Medien (außer Rundfunk und Hörbuch) keine Bilder liefert, muss ich Bilder und Gefühle aus meinem eigenen Gedächtnis, aus meinem Erinnerungsspeicher heraufbeschwören: Damit ist ein Buch eben niemals nur das Buch des Autors, sondern ebenso des Lesers, durch den es erst vollständig wird.
Und das bedeutet auch, dass ich mich als Leser bei jeder Lektüre unbewusst mit meinen eigenen Erfahrungen auseinandersetze – weshalb das Lesen immer auch therapeutische Qualitäten hat.
Die Redaktion: Haben Sie einen Tipp für die Politik, eine Handlungsempfehlung mit der sie das Lesen effektiv fördern könnten?
Kirsten Boie: Den EINEN Tipp kann es nicht geben. Das Lesen beginnt lange vor der Schule. Wir brauchen viel mehr Sprachförderung, wir brauchen Elternarbeit (Vorlesen!), wir brauchen viel mehr und viel besser qualifizierte und bezahlte ErzieherInnen an den Kitas, wir brauchen mehr Studienplätze für Grundschullehrer und eine bessere Qualifizierung zum Thema Lesenlernen im Studium, wir brauchen an den Schulen mehr Unterrichtszeit zur Vermittlung der Lesefähigkeit und den Einsatz längst bekannter, aber immer noch selten genutzter Methoden, die sehr viele – die meisten? – Lehrer ohne eigene Schuld gar nicht kennen. Und wir brauchen an den Schulen mehr Zeit, auch Lesefreude zu vermitteln!
Die Redaktion: Was hat sich über die Jahre bei ihren Lesungen verändert?
Kirsten Boie: Die Schere klafft weiter auseinander. Bei öffentlichen Lesungen stoße ich auf Kinder, deren Eltern ihnen vorlesen und das Lesen massiv fördern – Kinder, die lange konzentriert und begeistert zuhören können und mich anschließend mit Fragen (und Meinungen!) bombardieren.
An „Brennpunktschulen“ dagegen begegne ich häufig Kindern, denen es schwer fällt, auch nur fünf Minuten zuzuhören – nicht, weil sie dümmer wären als die anderen, sondern einfach, weil ihnen niemals vorgelesen wurde und in ihrem Kopf einfach keine Bilder entstehen – denken Sie an das, was ich oben gesagt habe. Bilder und Gefühle muss ich aus meinem eigenen Speicher abrufen.
Und auch das muss gelernt werden. Zum Glück erlebe ich viele Lehrer*innen, denen das bewusst ist und die selbst, dosiert und für ihre Kinder passend, regelmäßig vorlesen. Aber wo das nicht passiert, haben diese Kinder keine Chance.
Die Redaktion: Was empfehlen Sie für eine private Vorlesesituation?
Kirsten Boie: Wo das möglich ist: Ganz viel Nähe! Und Bücher, die vor allem den Kindern Spaß machen – wobei es natürlich toll ist, wenn auch die erwachsenen Vorleser dabei ihren Spaß haben, das merken die Kinder ja sehr deutlich. Und die Grundregel ist: Das Kind gibt die Richtung vor.
Wenn es dasselbe Buch zehnmal vorgelesen haben möchte, hat es einen – ihm selbst oft vielleicht nicht mal bewussten – Grund dafür, und dann muss der Vorleser da durch! Und wenn ein Kind unterbricht und erstmal über etwas reden muss: Unbedingt! Nur so lernen Kinder, dass die Bücher für sie da sind.
Die Redaktion: Der Möwenweg wird dieses Jahr zwanzig Jahre alt! Inwieweit sind Reihen für die Leseförderung wichtig?
Kirsten Boie: Kinder lieben Verlässlichkeit, sie freuen sich, wenn sie Orte und Charaktere wiedererkennen, und unbewusst registrieren sie auch, dass es in dieser Reihe immer um eine bestimmte Art vom Thema oder Handlungsmuster geht, in einer anderen um eine andere.
Reihen verfestigen Muster auf eine gute Weise: Kinder lernen eine Dramaturgie kennen, die sie dann immer wieder erwarten, und das ist eine wichtige Voraussetzung für den Spaß an Geschichten: Dass ich etwas vorausahne, dass ich mit einer Erwartung lese, die dann zunächst aber auch nicht enttäuscht werden darf.
Die Redaktion: Der Möwenweg ist ein Ort zum Wohlfühlen, ein Ort glücklicher Kindheit. Meinen Sie es kann Kinder auch traurig machen so eine Idealwelt aufgezeigt zu bekommen, in der sie selbst nicht leben können?
Kirsten Boie: Möglich ist es vielleicht – auch wenn ich von so einer Reaktion bisher nicht gehört habe. Ich glaube, wenn ein Kind in eine Geschichte eintaucht, dann identifiziert es sich, dann IST es quasi eine der handelnden Personen (oder sogar mehrere), dann spürt es deren Glück und deren Ärger und deren Freude oder Traurigkeit.
Und wenn es für die Kinder im Möwenweg immer „so schön“ ist, dann ist es das daher im Augenblick der Lektüre für das lesende Kind auch. Wenn es dann hinterher in seine eigene, traurigere Realität zurückkehrt, hat es wenigstens ein bisschen Freude getankt und ist dadurch gestärkt.
Und vielleicht hat es ja sogar die Überzeugung gewonnen, dass das Leben auch in seiner eigenen Zukunft sein kann wie im Möwenweg. Und das wäre doch tröstlich.
Info
Eine Übersicht aller Titel von Kirsten Boie bei Oetinger online unter: www.oetinger.de